Der jiddische Dichter Josef Burg verkörpert eine untergegangene Welt

Foto Josef Burg

Es gibt eine Zeit in seinem Leben, über die Josef Burg nicht spricht. Er hat keine Worte für die Jahre von 1940 bis 1980, „die 40 besten Jahre im Leben eines schaffenden Menschen“, wie der Dichter und Erzähler mit brüchiger Stimme sagt. „Es waren verlorene Jahre.“ Er schüttelt den Kopf, fällt in sich zusammen und schweigt. Sein Blick schweift ins Leere, so als ob er diese 40 Jahre noch einmal im Zeitraffer an sich vorbeiziehen lässt. 40 Jahre, in denen er bestenfalls kleinere Erzählungen in Zeitschriften wie „Sowetisch Heijmland“ veröffentlichen durfte, aber keine Bücher. Ein halbes Menschenleben, in dem er jahrelang gar nichts schrieb. „Ich hätte damals sowieso nicht schreiben können, selbst wenn ich gewollt hätte. Das war eine finstere Zeit, für alle Schriftsteller.“

Doch plötzlich richtet er sich auf, lächelt und deutet auf die Wand seines Arbeitszimmers, die mit Fotos von Ehrungen und Gratulationen übersät ist. 1992 wurde ihm vom israelischen Schriftstellerverband der Segal-Preis zuerkannt, der Präsident der Ukrainischen Republik verlieh ihm 1992 die Ehrenmedaille für Verdienste um die ukrainische Kultur. In seiner Geburtstadt Wishnitz wurde eine Straße nach ihm benannt. „Der Herr im Himmel war gütig“, schmunzelt er, „wäre ich vor zehn Jahren gestorben, von meinem Leben wären zwei Zeilen geblieben. Und heute stehe ich sogar in der Enzyclopaedia Brittanica.“

Josef Burg feiert am 30. Mai seinen 90. Geburtstag. Er ist, wie die Allgemeine Jüdische Wochenzeitung einmal schrieb, seit dem Tod des Nobelpreisträgers Isaac Bashevis Singer der letzte noch lebende große jiddische Schriftsteller dieses Jahrhunderts. Er selber sieht sich als „den letzten Übriggebliebenen aus der großen Tradition der Czernowitzer jüdischen Literatur“. Vor dem Zweiten Weltkrieg wohnten in der Stadt am Pruth, gelegen in der Bukowina an den Ausläufern der Karpaten, 60.000 Juden, zwei Drittel der Einwohner, von einst 76 Synagogen ist eine geblieben. Czernowitz war das Zentrum der jiddischen Literatur – 36 jüdische Schriftsteller lebten hier: unter ihnen Rose Ausländer und Paul Celan, Itzik Manger und der Fabeldichter Eliezer Steinbarg. 1934 erschien in den „Czernowitzer Bletern“ Burgs erste Erzählung – 1990 hat er die traditionsreiche Zeitschrift zu neuem Leben erweckt, als Herausgeber, Redakteur und Verfasser in Personalunion.

Burg blickt auf ein Leben zurück, in dem sich die politischen Wirren des 20. Jahrhunderts widerspiegeln: Geboren 1912 in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, aufgewachsen in der Zwischenkriegszeit unter rumänischer Herrschaft, wie viele andere junge Bukowiner zum Studium nach Wien, Flucht vor den Nationalsozialisten, „befreit“ von den Sowjetrussen – „und diese Befreiung hat über ein halbes Jahrhundert gedauert“ -, gelitten unter dem stalinistischen Antisemitismus, der von den Nachfolgern des Diktators mal milder mal rigider fortgeführt wurde, unter Gorbatschow erfreut über das „Ende der traurigen Zeit für die Juden“, seit 1991 Staatsbürger der Ukraine. „Das 20. Jahrhundert war das schrecklichste Jahrhundert in der Geschichte der Menschheit“, lautet Burgs Fazit. In seinen Erzählungen lässt Josef Burg dieses schreckliche Jahrhundert wieder lebendig werden. Sie erschließen eine Welt, die heute weitgehend unbekannt ist, die von den Nationalsozialisten und ihren ukrainischen oder rumänischen Helfershelfern vernichtet wurde. „Meine Themen“, sagt Burg, „sind das eigene Leben, der Holocaust, die Bukowina vor der Katastrophe, die Sowjetunion.“

Alle seine Erzählungen und Skizzen hat er in seiner Muttersprache, der mameloschn, verfasst. Das Jiddische sei „a loschn beazmoj“ – eine Sprache für sich, betont er, kein „verdorbenes Deutsch“, wie es auch von assimilierten und gebildeten Juden despektierlich bezeichnet wurde. In der kleinen Geschichte „In der Dämmerung“ schildert er, wie er als Wiener Germanistikstudent von einem Professor nach seiner Muttersprache gefragt wurde:
Ich antworte kurz: „Jiddisch, Herr Professor!“
Er heftet seine blauen verblichenen Augen auf mich. In ihnen leuchtet ein unerwartetes, verträumtes Lächeln, funkelt auf und bleibt auf seinem strengen Gesicht stehen.
Ich merke, dass er etwas sagen will. Vielleicht das abgedroschene „Jiddisch ist ein verdorbenes Deutsch“. Doch er sieht mich eindringlich an. Wärme und ein kleines Zögern liegen in seinem Blick. Und er sagt etwas Unerwartetes, sagt einfach, rein und ausdrucksvoll: Jiddisch, junger fraint, is a loschn beazmoj!“
Mir wurde schwindelig. Eine jähe Hitze fuhr mir über die Haut. Und mir war, als sänge alles ringsum mit lauter Stimme: „Jiddisch is a loschn beazmoj!“

Im Karpatenstädtchen Wischnitz, in dem er geboren wurde, erzählt Burg, hätten auch die christlichen Huzulen jiddisch gesprochen. Über 6.300 der 6.800 Einwohner waren Juden, Wischnitz gilt als „Wiege des Chassidismus“, der im 18. Jahrhundert entstandenen mystisch-religiösen Frömmigkeitsbewegung. Die Wischnitzer Rebben waren hochgeachtet und weitbekannt, der letzte von ihnen hieß Israel ben Boruch. Er soll, so geht die Legende, 1924 Burgs Mutter vor der Übersiedlung der Familie nach Czernowitz auf ihre Bitte hin, er möge den Sohn segnen, geantwortet haben: „Wozu? Er ist schon gesegnet.“

Burg hat seinen Vater, der den für Juden seltenen Beruf des Flößers ausübte, literarisch verewigt. Die Familie war bitterarm, schreibt er in „Kortnschpil/Kartenspiel“, und als es in meiner Jugend im Frühling noch keine Arbeit gab und das Brot daheim zur Neige ging, trug er (der Vater) seine Verzweiflung oft in die Schenke. Eine braune abgeschabte Geige schluchzte ihm dann ihre Melodie ins Ohr, als wollte sie ihn trösten:
„Trink, trink. Ssajwi is doss lebn hefker! – Trink, trink. Das Leben kommt doch, wie es kommt!“
Und mein Vater trank, bis ihm der Wein im Hals zu sieden begann. Dann suchte er den Heimweg und weckte die schlummernden Gassen, wenn er krächzend stritt mit der Nacht.

„Der Vater hat Glück gehabt“, sagt Burg heute. „Er ist 1938 gestorben.“ Er musste nicht miterleben, wie die Familie von den Nationalsozialisten ausgelöscht wurde. „Alle meine Verwandten sind umgekommen. Ich bin der einzige Überlebende meiner großen Familie.“ Es waren über fünfzig.

Eigentlich wollte Josef Burg Wien, das inzwischen von den Nazis regiert wurde, im Sommer 1938 über Prag und Frankreich nach England verlassen. Doch das Transitvisum durch Deutschland wurde ihm auf der deutschen Botschaft in Prag verweigert, obwohl er einen gültigen rumänischen Pass vorweisen konnte, in dem keine Konfession eingetragen war. Der Beamte habe ihn angeschaut, erinnert sich Burg, und gesagt: „Wohl möglich, dass Sie Rumäne sind. Aber Ihre Nase ist eine Jüdische.“ Also reiste er zurück nach Czernowitz, um auf anderen Wegen nach London zu gelangen. Doch dort wartete eine neue böse Überraschung auf ihn: „Ich hatte nicht gewusst, dass die rumänischen Faschisten das Staatsbürgerrecht geändert hatten.“ Jeder Jude musste nun nachweisen, dass bereits seine Großeltern an seinem jetzigen Wohnort registriert waren. „Das konnte ich nicht, weil im Ersten Weltkrieg viele Archive ausgebrannt waren. Also nahmen sie mir den Pass ab. Ich war plötzlich staatenlos geworden.“

Bevor Burg 1959 nach Czernowitz zurückkehren durfte, in „eine vollkommen andere Stadt als die, die ich verlassen hatte“, führte ihn eine zwei Jahrzehnte dauernde Odyssee durch die Sowjetunion: Deutschlehrer in der Wolgarepublik, dann Usbekistan, in den Kohlegruben im Ural, Lehrer in der Nähe von Moskau – „schöne Jahre und fürchterlich schlechte Jahre. Ich will mich an diese Zeit nicht erinnern.“ Wie dramatisch diese Zeit gewesen sein muss, wird in seiner – vielleicht schönsten – Erzählung „Ruth“ angedeutet, die seiner russischen Frau, einer Nichtjüdin, gewidmet ist:
Ich nahm sie in meine zitternden Arme und erzählte ihr eine uralte Geschichte, die Legende von einer Frau namens Ruth, der Tochter eines fremden Volkes, die unter anderen Verhältnissen, doch mit der gleichen Entschlossenheit genau wie sie gesagt hatte:
„Wo du hingehst, da will ich auch hingehen.“
Wie ein Durstender trank ich diese unbegreifliche Freude und wollte gar nicht mehr wissen, auf welche Gefahr wir uns beide einließen.

Während Burg, am Schreibtisch seines Arbeitszimmers sitzend, aus seinem Leben erzählt, spielt irgendjemand im Haus Klavier. Es ist ein elegisches, leicht melancholisches Stück, wie bestellt zur Untermalung seiner Geschichte und Geschichten. Die Musik lässt den greisen Mann mit dem schlohweißen ungebändigten Haar wirken wie ein Relikt längst vergangener Zeiten. Burg verkörpert eine Welt, wie es sie heute nicht mehr gibt. Er ist ein lebender Anachronismus, ein Denkmal gegen das Vergessen. „Ich will nicht der Letzte sein“, sagt er fast trotzig, „es kann nicht sein, dass Czernowitz untergeht.“ Und er zitiert ein russisches Sprichwort: „Eine Stunde zur Nacht ist noch nicht Nacht.“

Die zitierten Passagen sind entnommen aus: Josef Burg, Ein verspätetes Echo/A farschpetikter echo, P. Kirchheim Verlag (München) 1999

Bibliografie:
– Oifjn splaw (Auf dem Floß), Czernowitz 1934
– Oijfn Tscheremusch, Bukarest 1939
– Ssam (Gift), Czernowitz 1940
– Doss leben gejt wajter, Moskau 1980 (Beilage zu Ssowetisch hejmland)
– Iberuf fun zajtn, Moskau 1980
– A farschpetikter echo, Moskau 1990
– Zwej weltn, Czernowitz/Odessa 1997
– Blumen und Tränen, Ukraine 1997
– Ein Gesang über allen Gesängen, Leipzig 1988 (vergriffen)
– Ein verspätetes Echo/A farschpetikter echo, München 1999

Author

…, geboren 1964 in Müsen, kooperiert als freier Autor, Rechercheur und Projektmanager mit Organisationen u.a. in Deutschland, Polen, Israel, den USA und der Ukraine. Seit über 30 Jahren beschäftigt er sich sowohl mit der jüdischen Geschichte und Kultur als auch mit den familiären, gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen der NS-Zeit auf die Gegenwart. Uwe von Seltmann ist zudem Regisseur und Co-Produzent des preisgekrönten Dokumentarfilms „Boris Dorfman – A mentsh“. Zuletzt erschien 2021 „Wir sind da!“, das offizielle Buch zum Jubiläumsjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ (Homunculus, Erlangen).

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