Vortrag auf dem Colloquium Opole am 6. November 2001

I

Wussten Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass die Engländer die Wollust lieben und die Schweden köstliche Speisen? Dass die Deutschen zwar einen scharfen Verstand besitzen, aber den ganzen Tag lang saufen? Dass die Polen bäurische Sitten pflegen, von hochwilder Natur sind, gerne prahlen und streiten und ihr Leben im Stall aushauchen werden?

Das behauptet zumindest eine Tafel aus dem 18. Jahrhundert, die sich heute im Österreichischen Museum für Volkskunde in Wien befindet. Auf dieser Tafel, die einst in einem Amtsgebäude oder einem Adelssitz hing, werden die europäischen Völker und ihre Eigenschaften dargestellt. Der unbekannte Künstler hat für seinen Auftraggeber jedem Volk bestimmte Charakterzüge zugeordnet. Während nun die westeuropäischen Völker über gute und schlechte Eigenschaften verfügen, sind Polen, Ungarn, Russen und Türken durchweg üble Gesellen. Dieser Künstler hat die medialen Möglichkeiten seiner Zeit, in der nur eine Minderheit lesen und schreiben konnte, geschickt und gezielt eingesetzt: Je weiter es nach Osten geht, desto dunkler wird die Tafel. Russen und Türken versinken in der Finsternis.

Dass die Engländer einen Hang zur Wollust haben, behaupten heute, fast 300 Jahre später, nicht einmal die Insulaner selber. Doch gibt es Klischees, die sich offensichtlich hartnäckig im kollektiven Bewusstsein eines Volkes festsetzen. Zwei Beispiele aus dem heutigen Alltag:
Eine Geburtstagsfeier in einem kleinen brandenburgischen Dorf, unweit der Grenze zu Polen. Jemand erzählt, dass kürzlich einem Bekannten in Polen das Auto gestohlen wurde. Und als ob er mit dieser Geschichte ein geheimes Signal gegeben hätte, berichtet plötzlich jeder, dass er jemanden kenne, der wiederum jemanden kenne, dem erst letzte Woche in Polen oder Tschechien das Auto geklaut wurde. Mein Einwand, dass auch in Frankreich und Italien deutsche Autos gestohlen würden, fand kein Gehör. Die Wander-Anekdote von den gestohlenen Autos ist offenkundig so mächtig, dass sie sich jeder vernünftigen Argumentation verschließt. Übrigens: Keiner dieser ehrbaren und anständigen Bürger ist jemals in Polen gewesen.

Zweites Beispiel: Siebenhundert Kilometer südwestlich in einer schwäbischen Universitätsstadt. Ich unterhalte mich mit einer Psychologin, Anfang vierzig, die demnächst eine Professorenstelle antritt; eine hochgebildete Frau also. „Ich bewundere Sie“, sagte sie zu mir, „dass Sie den Mut haben, immer in den Osten zu fahren.“ Ihr wäre das viel zu gefährlich dort. Ich schüttele den Kopf und frage, wie sie auf die Idee komme, dass es in Osteuropa so gefährlich sei.
„Das weiß man doch aus den Medien“, antwortet sie.
Wirklich? Wann sie denn das letzte Mal etwas über Polen und Tschechien in den Medien gelesen oder gesehen habe, frage ich.
Sie stutzt – und kann sich an keinen Zeitungsartikel oder Filmbeitrag erinnern.

II

Das gegenseitige Bild von Polen und Deutschen sei immer noch von Klischees geprägt, sagte der polnische Präsident Kwasniewski am 3. Oktober auf dem Festakt zum Tag der deutschen Einheit. Ohne die Überwindung dieser Klischees werde es schwer fallen, „eine gemeinsame Sprache im Alltag zu finden.“ Ein knappes Jahr zuvor hatte sich der polnische Gesandte in Köln, Krzysztof Miszczak, etwas weniger diplomatisch geäußert. „Erschütternd ist die polenfeindliche Haltung“, war sein Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau zum 30. Jahrestag der Unterzeichnung des Warschauer Vertrags
überschrieben. „Unbedingt sollte auf eine Verbesserung des Polen-Bildes in den deutschen Medien hingewirkt werden“, lautete einer der Kernsätze seines Artikels.

Sind also – wieder einmal – die Medien an allem Schuld? Wie sieht das Bild von Polen und Tschechien in den deutschen Medien überhaupt aus?
Ich habe mich bei meinen Recherchen für diesen Vortrag vor allem auf die Printmedien konzentriert, ein Blick in die Fernseh- und Hörfunkprogramme lässt jedoch auf ein ähnliches Ergebnis schließen.
Für beide Länder – Polen wie Tschechien – lässt sich ein einheitliches Fazit ziehen:

In den Boulevardzeitungen kommen beide Länder überhaupt nicht vor. Wer zu den knapp zwölf Millionen Lesern der Bild -Zeitung zählt und sich nicht anderweitig informiert, erfährt über Polen und Tschechien: nichts. Als einzige Notiz in Bild im vergangenen halben Jahr habe ich vier Zeilen über die Abwahl der alten polnischen Regierung gefunden. Und da auch der tschechische Dichterpräsident Vaclav Havel, sakrosankter Liebling aller Medien, weder durch eine neue Frau an seiner Seite noch durch eine lebensrettende Notoperation aufgefallen ist, fand auch die Tschechische Republik nicht statt.

Dieser Befund ist nicht nur negativ zu sehen, denn ich kann mich an Zeiten erinnern, als Bild (oder die privaten Fernsehsender) nahezu täglich Reporter auf den „längsten Straßenstrich der Welt“ schickten, an die Europastraße 55, um brandheiße und erschütternde Bilder in die bundesdeutschen Wohnzimmer zu bringen. Diese Bilder und Berichte sind selten geworden, scheinen sich jedoch ebenso tief im Gedächtnis verankert zu haben wie die gestohlenen Autos.

In den regionalen und lokalen Blättern kommen Tschechien und Polen bestenfalls in der Spalte „Kurz notiert“ vor – Ausnahmen sind Zeitungen in den jeweiligen Grenzgebieten. Je kleiner eine Zeitung ist und je weiter westlich oder nördlich sie erscheint, desto geringer fällt die Berichterstattung aus. Und diese beschränkt sich meist auf Agenturmeldungen wie „Grausiger Leichenfund im Schnellzug Nürnberg-Prag“ oder „Amoklauf in tschechischem Nachtclub“. Zur Ehrenrettung dieser Blätter sei aber gesagt, dass auch Meldungen erscheinen wie „Stadt Brünn bedauert Vertreibung der Deutschen“ oder „56. Prager-Frühling-Musikfestival gestartet“.

Die überregionalen Zeitungen und die Qualitätspresse bieten insgesamt ein anderes Bild. Ob Süddeutsche Zeitung , Welt , Spiegel oder Zeit – alle haben meist eigene Korrespondenten vor Ort und berichten – unabhängig von der politischen Ausrichtung – mal mehr, mal weniger ausführlich über das Geschehen in Polen und Tschechien. „Warum eigentlich konzentriert sich bei uns alles Interesse auf die westlichen Nachbarn?“, fragt beispielsweise Marion Gräfin Dönhoff, Herausgeberin der Zeit , gebürtige Ostpreußin und eine der bedeutendsten deutschen Journalisten nach dem Zweiten Weltkrieg. Kaum einer kenne „unseren östlichen Nachbarn Polen“, schreibt sie. Dabei sei Polen „ein Land mit unglaublich spannenden Aspekten und einer Geschichte, die ihresgleichen sucht.“ In der Ausgabe vom 13. Juni hat die Zeit denn auch in fast allen Ressorts über Polen berichtet – und dabei doch den Griff in die Klischeekiste nicht ganz vermeiden können.

Und damit komme ich zu einigen Wermutstropfen, die mir bei der Lektüre der seriösen Presse aufgefallen sind:
Bleiben wir bei der Zeit . Mit welchem Motiv ist ein Artikel über die polnische Landwirtschaft bebildert? Natürlich: „Mit Pferd und Holzpflug“, ist das einzige Foto unterschrieben, „arbeiten immer noch viele Bauern in Polen“. Auch beim Spiegel scheint der zuständige Fotoredakteur stets den unvermeidlichen Panjewagen vor Augen zu haben – in kaum einem Bericht ist er nicht zu sehen. Krakauer Freunde und ich haben uns im Sommer mal den Spaß gemacht, auf einer Fahrt durch wirklich sehr ländliches Gebiet die Panjewägelchen und Pferdegespanne zu zählen: Fünf auf 250 Kilometern – in der Region, in der ich aufgewachsen bin, im südlichen Westfalen, gibt es mindestens ebenso viele, weil Pferde dort in den unwegsamen Waldgebieten beim Holzfällen eingesetzt werden. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ein polnischer oder tschechischer Journalist einen Text über die deutsche Landwirtschaft mit einem westfälischen Rückepferd bebildert.

Große Aufmerksamkeit fand im Februar 2000 in der deutschen Presse ein Ereignis, das sich in Warschau abgespielt hatte. Was war geschehen? Der Stadtrat hatte ein Ausschankverbot für den im Sejm befindlichen Spirituosenladen beschlossen. Ein Mitglied des Rats wird mit den Worten zitiert: „Seitdem ich im Foyer des Parlaments über einen am Boden liegenden Abgeordneten gestolpert bin, kämpfe ich für ein Alkoholverbot.“ Die Aktion war wohl eher ein Racheakt nach Diätenkürzungen für Lokalpolitiker, aber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung war diese weltbewegende Geschichte über 150 Zeilen wert. – Hat man es nicht schon immer gewusst? Die faulen Polen saufen lieber anstatt zu regieren. Kein Wunder, dass sie es zu nichts bringen!

Eine Reporterin kann sich, als sie den hessischen Ministerpräsidenten auf einer Polenreise begleitete, über mehrere Absätze darüber verwundern, wie ordentlich und sauber es doch in einer polnischen Schule aussehe. – Unglaublich! Sauberkeit in Polen? Da scheint ein Weltbild zusammengebrochen zu sein.

Die Süddeutsche Zeitung bringt in der Wochenendbeilage eine ausführliche Reportage über Kinderprostitution in Cheb. Die Journalistin prangert sehr engagiert die dortigen Zustände an. Konterkariert wird ihr Beitrag jedoch durch das großformatige Foto: Zwei leicht bekleidete Damen, deren lange Beine und wohlgeformte Hinterteile den – zumindest den männlichen – Betrachtern gleichsam ins Auge springen. – Heiße Frauen, die Tschechinnen. Zu allem bereit. Muss ich doch auch mal hinfahren!

Ein eher erheiterndes Beispiel zum Abschluss: Eine der meistgedruckten Meldungen der Nachrichtenagentur epd (Evangelischer Pressedienst) aus Tschechien war vor einigen Jahren die über den „Knödel-König“: Ein Mann hatte beim jährlichen Wettbewerb in einer Stunde über 150 Pflaumenknödel verputzt und war damit Meister geworden. – Da war er wieder: der Tscheche als biertrinkender und knödelessender Schwejk, der gemütlich ist und sich gewitzt aus allem Schwierigen herauswindet.

Wie kommt es nun zu solchen Klischees auch in seriösen Medien? Wie beurteilen die Korrespondenten vor Ort das Bild von Tschechen und Polen in den deutschen Medien? Mit welchen Schwierigkeiten haben sie zu kämpfen? Gibt es vielleicht Tabus in der Berichterstattung? Werden Aspekte der Wirklichkeit ausgeblendet, sei es aus Gründen der sogenannten „political correctness“ oder – umgekehrt – weil vielleicht ein Vorurteil ins Wanken gebracht werden könnte?

Ich habe mich für diesen Vortrag mit „zwei Männern vor Ort“ in Verbindung gesetzt: Mit Thomas Urban, der seit acht Jahren für die Süddeutsche Zeitung aus Polen berichtet und auch einige Bücher über Land und Leute veröffentlicht hat, und mit dem Prager Kollegen Heiko Krebs. Er ist ein freier Journalist, der einen – wie man im Journalistenjargon sagt – Bauchladen hat, das heißt er berichtet für verschiedene Medien, unter anderem für die Süddeutsche , den epd und die Berliner Morgenpost .

Was Krebs und Urban unabhängig voneinander berichten, gibt nicht unbedingt Anlass zu Optimismus: Dass künftig die Berichterstattung aus Polen und Tschechien mit mehr Sorgfalt und Tiefgang gepflegt wird, scheint nicht zu erwarten – vor allem nicht nach dem 11. September, seitdem ja, wie immer noch täglich zu lesen ist, nichts mehr so ist wie zuvor.

Das wichtigste Kriterium, wonach sich entscheidet, wie viel aus Polen und Tschechien in den Zeitungen abgedruckt wird, sei, so der Kollege Krebs, die weltpolitische Lage. Bei den meisten Zeitungen gehe der Trend zur Kürzung von Außenpolitik-Seiten. Es blieben vielleicht eine, zwei, drei Seiten übrig, auf denen sich die ganze Welt abspielt. Da sei Tschechien, wenngleich Nachbarland, doch nur ein kleines Rädchen im Getriebe.

Als Beispiel führt Krebs den sogenannten „Fernsehkrieg“ Anfang des Jahres an, als Prager Journalisten ihre Redaktion besetzten, um gegen einen neuen, vom Fernsehrat vorgesetzten Chefredakteur zu protestieren. Eigentlich sei das ein „innerbetrieblicher Streit“ in einem x-beliebigen Sender gewesen und hätte unter normalen Umständen kaum eine Chance gehabt, über irgendeine Medienseite hinaus Erwähnung zu finden.

Warum ist über diese Aktion dennoch so ausführlich berichtet worden? Drei Gründe:
Die Weihnachtszeit ist nachrichtenarme Zeit und jede Redaktion ist froh, wenn sie ihre Seiten füllen kann.
Vaclav Havel, die schon erwähnte Kultfigur, hat sich eingemischt und Position bezogen.
Die deutschen Redakteure fanden die Auseinandersetzung selbst hochinteressant, weil sie eigentlich mit ihrer Chefredaktion auch unzufrieden sind und gerne auch mal auf die Barrikaden steigen würden, es sich aber nicht trauen.

„Du meinst zwar für irgendwelche Leser zu schreiben“, so fasst Krebs seine Erfahrungen zusammen, „schreibst aber zunächst mal für die Redakteure.“ Das Beste, was einem als Auslandskorrespondent passieren könne, sei ein Redakteur in der Heimatredaktion, „der zwar hochinteressiert ist, aber nicht allzu viel Ahnung hat“.

Polen-Korrespondent Thomas Urban bestätigt diese Beobachtungen: „Wie auch die deutschen Politiker, so interessieren sich auch die Medienmacher immer weniger für Polen. Und wenn, dann nur, um eigene Vorurteile bestätigt zu sehen.“ Gefragt seien Themen wie Automafia, Antisemitismus, Rückständigkeit. Urban sperrt sich gegen diese Erwartungen: „Ich versuche, über Panjewägelchen, Bauernmisere und so weiter nur zu berichten, wenn ich im selben Stück auch ein paar Zeilen über das moderne Polen unterbringen kann“, sagt er.

Die Situation eines freien Journalisten wie Heiko Krebs unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von dem eines festangestellten Redakteurs: Krebs bekommt kein regelmäßiges Gehalt, sondern wird nach Zeilen honoriert. Er muss also gelegentlich gewisse Klischees deutscher Redakteurinnen und Redakteure bedienen – und damit auch „Sex and Crime“-Themen behandeln. Es sei oftmals “ die Not“, so Krebs, die ihn zu „Schmuddelgeschichten“ treibe. Hier wie überall gelte: Nur die schlechte Nachricht ist eine gute Nachricht. Wenn sich beispielsweise Roma und Tschechen gut vertragen, verkaufe sich das schlecht. Und eine Geschichte, in der ein Roma einen Tschechen verdrischt, werde er schwerer los als wenn umgekehrt ein Tscheche einen Roma verprügelt.

Klischees einerseits und andererseits scheinbar politisch korrekte Vorstellungen, nach denen nicht sein kann, was nicht sein darf, haben bei vielen deutschen Redakteuren – und das ist auch meine Erfahrung – die berühmte „Schere im Kopf“ doch recht groß werden lassen. Wenn etwas nicht in ihr vorgefasstes Weltbild passt, muss man bisweilen mit Engelszungen reden, um sie von einem Thema zu überzeugen. Und wenn dann ein Artikel mit dem Argument abgelehnt wird: „Wir haben doch erst vor einem halben Jahr eine Polen-Geschichte von Ihnen gebracht“, gerät man doch ins Nachdenken.

Doch hat man die Hürde in den Heimatredaktionen überwunden, wer liest dann die Artikel über Polen und Tschechien?
Thomas Urban sieht vier Gruppen, die seine Berichterstattung verfolgen: „Heimatvertriebene, Spätaussiedler, Geschäftsleute, Fans von Kultur und Landschaft.“ In der gesamten deutschen Gesellschaft seien das jedoch nur „ein paar Prozent“. Die anderen stünden „mit dem Rücken zur Oder“, ihr Verhältnis zu Polen sei von Arroganz und Ignoranz geprägt. Dies gelte für Minister und Chefredakteure ebenso wie für die große Masse.
Heiko Krebs zeichnet ein ähnliches Bild: Das Interesse an Tschechien sei in Deutschland nicht sehr groß und nehme proportional mit jedem Kilometer von der Grenze entfernt ab. Am größten sei es in Bayern, wo die meisten Sudetendeutschen leben. In Zukunft, so prognostiziert er, werde das Interesse an Tschechien in deutschen Medien noch geringer sein: „Wenn Havel nicht mehr da ist, das Land ein reguläres EU-Land ist, das Lohngefälle, die Immobilienpreise (und die Preise für die Prostituierten) angeglichen sind und alle Roma quer durch Europa reisen, bleibt bis auf die ewige Romantik Prags wohl nicht mehr viel Berichtenswertes übrig.“ Die meisten Zeitungen hätten schon jetzt ihre Leute aus Tschechien abgezogen oder leisteten sich keine festen Mitarbeiter mehr.

III

Welches Fazit lässt sich ziehen?

Zunächst das Positive: Keine Zeitung innerhalb des demokratischen Spektrums schürt eine Kampagne gegen Polen oder Tschechen. Ich habe keinen Artikel gefunden, in dem offen oder versteckt gegen eines der beiden Völker gehetzt würde.

Das Interesse der Entscheidungsträger in den Medien gegenüber Polen und Tschechien ist, wie wir gesehen haben, eher gering. Damit sind sie ein getreuer Spiegel des allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Lebens.

Daraus folgt: Es ist kaum zu erwarten, dass sich irgendein Medium in naher Zukunft zur Speerspitze im Kampf gegen Vorurteile entwickeln wird. Dieser Einsatz wäre jedoch dringend notwendig – und damit komme ich auf meine beiden Alltagsbeispiele vom Beginn des Vortrags zurück. Die Vorurteile stecken bei vielen Zeitgenossen ganz tief drin, vor allem im Osten Deutschlands. Hier hat die DDR, Polens einstiges sozialistische Bruderland, eine Saat gelegt, die kräftige Wurzeln gefasst hat. „Die Polen wurden früher busweise angekarrt und ham uns das Centrum-Warenhaus leergekauft“, sagte ein Gast auf dieser brandenburgischen Geburtstagsfeier. „Und als wir Feierabend hatten, war nischt mehr da.“ In den 80er Jahren zogen dann die DDR-Behörden das alte Klischee von den faulen Polen aus der Schublade – um zu verhindern, dass sich die Solidarnosc-Bewegung über die Grenze ausbreitete.

Bei der schwäbischen Psychologin liegen die Ursachen für ihre Ängste noch eine Generation weiter zurück: Sie erzählte, dass ein Teil ihrer Familie und viele ihrer Nachbarn aus Schlesien oder den Sudeten vertrieben worden waren. Als Kind habe sie ständig regelrechte Horrorgeschichten über Polen und Tschechen gehört, und diese Geschichten hätten sie für ihr ganzes Leben geprägt.

Ich glaube nicht, dass man den Medien vorwerfen kann, Klischees über Polen und Tschechen gezielt zu platzieren. Viele Stereotypen werden aus Gedankenlosigkeit, Desinteresse oder Bequemlichkeit verwendet, ohne dass unbedingt eine böse Absicht dahinter stecken muss. Was sich jedoch weite Teile der Medien vorwerfen lassen müssen: Sie tun eben nichts gegen diese Vorurteile. Sie tragen nichts dazu bei, dass sich die vorgefassten Ansichten ändern können.

Hier sind nun die Leserinnen und Leser gefragt. Gerade wer sich im – wie es immer so schön heißt – deutsch-polnischen oder deutsch-tschechischen Dialog engagiert, sollte seine Stimme erheben. Einen Leserbrief zu schreiben, kostet weder viel Zeit noch Mühe. Und es soll sogar schon vorgekommen sein, dass Leserbriefe in den Redaktionen zur Kenntnis genommen wurden. Auch gegenüber den Medien gilt das alte Sprichwort: Steter Tropfen höhlt den Stein. Und vielleicht wird sich dann eines Tages folgende Szene nicht mehr wiederholen, die sich im äußersten Westen Deutschlands zugetragen hat: Eine Gruppe Jugendlicher aus Trier und Krakau fragte in einer Straßenumfrage die Passanten, was ihnen zu Polen einfalle. Ein junger Mann antwortete spontan und im Brustton der Überzeugung: „Sehr viel. Ich bin nämlich auch schon in Prag gewesen.“

Author

…, geboren 1964 in Müsen, kooperiert als freier Autor, Rechercheur und Projektmanager mit Organisationen u.a. in Deutschland, Polen, Israel, den USA und der Ukraine. Seit über 30 Jahren beschäftigt er sich sowohl mit der jüdischen Geschichte und Kultur als auch mit den familiären, gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen der NS-Zeit auf die Gegenwart. Uwe von Seltmann ist zudem Regisseur und Co-Produzent des preisgekrönten Dokumentarfilms „Boris Dorfman – A mentsh“. Zuletzt erschien 2021 „Wir sind da!“, das offizielle Buch zum Jubiläumsjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ (Homunculus, Erlangen).

7 Comments

  1. Ich habe die Artikel „Breslau ist Boomtown“ sowie „Das Bild von Polen und Tschechen in den deutschen Medien“ mit viel Interesse gelesen. Der Hauptgrund, warum ich mich für genau diese beiden Artikel interessiert habe, ist, dass ich mich zurzeit in Wroclaw (Breslau) im Rahmen meines Auslandssemesters befinde.

    Auf weitere Artikel freue ich mich bereits. Zwar versuche ich vor allem meine eigenen Erfahrungen in Wroclaw zu machen, aber ich ergänze mein „Wissen“ gerne bzw. manchmal mit gut recherchierten Texten/Artikeln.

    Gerade der Artikel „Das Bild von Polen und Tschechen in den deutschen Medien“ hat mir zu denken gegeben, da auch einige meiner Bekannten und Freunde ein falsches, veraltetes oder durch Vorurteilen gerpägtes Bild von Polen haben. Dabei muss ich zugeben, dass auch ich gewisse Vorurteile hatte und vielleicht noch immer habe. Vielleicht impliziert Unwissenheit ja (vorschnelle) Vorurteile.

    Neben den Berichterstattungen über Polen in den dt. Medien halte ich auch den persönlichen Kontakt zu Polen für wichtig, um Vorurteile aus den Weg zu räumen oder zu entschärfen.

    Auch wenn ich vielleicht nur einer kleiner Tropfen auf einem heißen Stein bin, so werde ich mein persönliches Bild von Polen zurück nach Deutschland bringen. Und vielleicht kann ich ja den ein oder anderen dazu bewegen, ein paar Vorurteile fallen zu lassen und Polen besser zu verstehen.

    Eins habe ich aber bereits jetzt schon geschafft: Meine engste Umgebung hat sich zumindest jetzt schon mit dem Thema Polen auseinandergesetzt. (Wohingegen die aktuelle Berichterstattung in den Medien, die ja in den letzten Wochen stark zugenommen hat, das Bild von Polen in einigen Bereichen weiter verschlechtern könnte und der von mir oben erwähnte Stein dadurch heißer wird und mein Tropfen unbemerkt verpufft.)

    Ich hoffe, dass es nicht unerwünscht ist, hier so viel zu schreiben. 🙂

  2. Pingback: Leider immer noch aktuell … « Uwe von Seltmann

  3. Der letzte Satz ist wohl kennzeichnend für eine breite Masse, die mit den ihnen bekannten Vorurteilen so zufrieden sind, dass sie die Wahrheit garnicht mehr interessiert.
    „Mitreden ist wichtig – mitdenken ist nutzlos“.
    Leider muss man sagen, dass die abgewählte polnische Regierung – um es mal vorsichtig auszudrücken – auch nicht gerade einen großen Beitrag zur Verständigung zwischen den Völkern beigetragen hat…
    Aber sehen wir’s mal positiv : Es gibt ein riesiges Potenzial das gegenseitige Verständnis zu verbessern 😉
    @Markus
    Du hättest gern noch mehr schreiben dürfen 🙂

  4. spannender Artikel. Schreibe gerade meine Magisterarbeit über das Thema. Interessanter Ansatz mit der „Schuld der Redakteure“. Im Berliner Tagesspiegel ist jedoch (vielleicht aufgrund der Nähe zu Polen) häufig etwas Polen zu lesen.Besonders wird hier über die Zusammenarbeit in der Grenzregion berichtet, zumeist sogar ohne Stereotype.
    Wichtigster Abbau der Stereotype ist sicherlich die persönliche Erfahrung. Also Leute: fahrt nach Polen! Ich war schon duzende Male dort. es lohnt sich wirklich!

    • Hey Kristian,
      Falls du das hier lesen solltest – ich sitze gerade an meiner Bachelorarbeit zu diesem Thema und bin an deinenen Ergebnissen interessiert!
      Melde dich gerne bei mir: fencheltee@gmx.net

  5. Kersti Wolnow Reply

    Wie wärs, wenn sich der Autor um unser Land kümmern und darüber schreiben würde? Wieder wird hier der böse, mit Vorurteilen behaftete Deutsche dargestellt.
    Das Gutmenscheln geht mir, ehrlich gesagt, auf den Zeiger. 3 Jahre Russland und viele Polen als Bekannte haben mich eines anderen belehrt.

  6. Die Ostdeutschen haben schon damals, als die Polen tatsächlich die deutschen Kaufhäuser in Grenznähe leergekauft haben (sollen – ich habs damals nur gehört, nicht selbst gesehen), daß sie selber nach Polen und in die CSSR gefahren sind, und dort in Grenznähe alles gekauft haben, was schön und billig war, und dort regelmäßig so gern Urlaub gemacht haben. Es gab sehr schöne Dinge in diesen Ländern, z. B. das Böhmische Glas oder Bekleidung, die es bei uns nicht gab. Als die Polen mit ihren Einkäufen bei uns dann dasselbe gemacht haben, war das natürlich sehr verwerflich. Man mußte deswegen nämlich am Hungertuch nagen. Wir waren so arm, daß nur die Wende und die Banane uns retten konnten.

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