Warum Pfarrer Tomasz Bruell nie seinen Patenonkel kennenlernte
Tomasz Bruell hat seinen berühmten Patenonkel, dessen Vornamen er trägt, nie gesehen. Stolz und wehmütig zugleich hängt er eine gerahmte Fotografie von der Wohnzimmerwand und reicht sie umher. Das Foto zeigt seinen Vater Dr. Oskar Bruell und den Patenonkel mit dessen Frau Katja: Der Patenonkel ist der Schriftsteller Thomas Mann, ein Freund des Vaters. „Ich wurde 1933 geboren“, erzählt Bruell, „im Jahr des Unheils“. Thomas Mann musste damals aus Nazi-Deutschland fliehen und konnte nicht einmal mehr zur Taufe kommen.
Bruells Vater und Thomas Mann hielten auch nach der erzwungenen Emigration des Literaturnobelpreisträgers den Kontakt aufrecht. Bruell berichtet von einem Brief, den der Vater am 6. Juni 1935 ins Schweizer Exil geschrieben habe. Und er erzählt von einem Artikel, in dem der Vater für die Wiener Zeitung den Entzug von Manns deutscher Staatsbürgerschaft mit den Worten kommentierte: „Wir werden ja sehen was länger dauert: Mein Kampf oder seine Buddenbrooks.“
Acht Jahre später, 1941, trug ein Pfarrer Bruells mütterlichen Großvater als Paten in die Taufurkunde ein. „Das hat mir das Leben gerettet“, sagt Bruell rückblickend. „Sohn eines Juden und Patenkind von Thomas Mann – diese Zumutung wäre für die Nationalsozialisten zu groß gewesen.“
Tomasz Bruell, der am 5. Juli 70 Jahre alt wird, lebt heute als evangelischer Pfarrer im Ruhestand in Cieszyn (Teschen), der polnisch-tschechischen Doppelstadt am Fuße der westlichen Beskiden. Das „lebende Geschichtslexikon“, wie der Theologe ehrfürchtig genannt wird, blickt auf ein spannendes Leben zurück. Im katholischen Polen vereint er bis heute in seiner Person eine dreifache Minderheit: Sohn eines Juden, evangelisch und Deutscher. „Ein Gnadengeschenk Gottes“, sagt Bruell dazu lächelnd.
Geboren wurde Bruell im schlesischen Bielsko (Bielitz), über Jahrhunderte Zentrum einer deutschen Sprachinsel. Bis 1920 gehörte Bielitz zur Habsburger Monarchie als einzige protestantische Stadt im österreichischen Machtbereich. Sein Vater war in der Textilstadt Mitbesitzer einer Tuchfabrik und nebenbei Kritiker am Wiener Burgtheater, wo er auch Thomas Mann kennen lernte. Als Bruell sechs Jahre alt war, nahm sein Vater den evangelischen Glauben der Mutter an.
1939 muss die Familie vor den in Polen einmarschierten Nazis fliehen. Sie will nach Rumänien, doch sie wird im ostpolnischen Lemberg von der neuen Besatzungsmacht, den Sowjetrussen, überrascht. Bruells Vater fällt dort der „Entpolonisierung“ der Stalinisten zum Opfer und wird 1940 „zur Umerziehung“ nach Sibirien deportiert, wo er zwei Jahre später an Entkräftung stirbt. Aus dieser Zeit stammt eines der letzten Lebenszeichen des Vaters: ein Brief zum achten Geburtstag des Sohnes, in dem er diesen an die Würde seines Vornamens „Thomas Manfred“ erinnert.
Tomasz Bruell und seine Mutter müssen 1941 erneut flüchten, diesmal wieder vor den Nationalsozialisten, die inzwischen die Ukraine besetzt haben. Die Flucht gelingt ihnen, weil eine Hausbedienstete den „Nazi-Schergen“ erzählt, der junge Tomasz sei an den ansteckenden Blattern erkrankt. Sie gehen zurück nach Bielitz, in ihre alte Heimat. „Wir hatten die Hoffnung nicht aufgegeben, dass der Vater zurückkommt“, sagt Bruell rückblickend.
Bruell und seine Mutter überlebten den Krieg, dank einer „Fügung Gottes“, wie er sagt, denn der Gauleiter in Kattowitz war ein Verehrer von Thomas Mann. Er setzte die Mutter auf die sogenannte Deutsche Volksliste, Kategorie 3; ihnen wurde also die deutsche Staatsangehörigkeit „auf Widerruf“ zugestanden. Bruells Tante und seine Großmutter hingegen wurden als Juden von den Nationalsozialisten ermordet.
Im kommunistischen Polen arbeitete Pfarrer Bruell, der mit einer Katechetin verheiratet ist, fast drei Jahrzehnte als Reise-Evangelist der Evangelisch-Augsburgischen Kirche. Nach dem Ende der Zeit „zwischen schwarzer Schwester und rotem Bruder“ sei nun endlich auch wieder Kontakt zu den Evangelischen in Cesky Tesin, dem tschechischen Teil der Grenzstadt möglich, freut sich Bruell. Jahrzehntelang seien vor allem wegen der tschechoslowakischen Staatssicherheit nur „geheime Treffen“ machbar gewesen.
Mit rund 85.000 Mitgliedern sind die lutherischen Christen nur eine kleine Minderheit im 38-Millionen-Einwohner-Land Polen. Etwa die Hälfte von ihnen lebt im Teschener Schlesien. Im übrigen Teil Polens zählen die Evangelischen vielerorts noch zu den „Exoten“. Allerdings, sagt Bruell einschränkend, sei es nicht mehr so schlimm wie in den 1950er Jahren. Damals wohnte er in einem mittelpolnischen Dorf, als einziger Protestant unter lauter katholischen Familien. Beim Abschiedsbesuch haben ihm Hausbewohner gestanden, erzählt er schmunzelnd, dass sie sich in den ersten Monaten nach seinem Einzug auf besondere Weise vor der evangelischen Gefahr geschützt hätten: Sie schliefen mit einer Axt im Bett.
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Rührende Erinnerung. Wir waren Schulkameraden seit 1939. Und es war noch schlimmer als hier geschildert. Mein unvergessener Tommy !