Wie der erzgebirgische Schnitzer Gottfried Reichel den Juden des Warschauer Ghettos ein Denkmal setzt und Gebete aus Lindenholz schafft
Das Wunder geschieht an Weihnachten, ein Jahr, sieben Monate und 17 Tage nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Weit weg von der Heimat, in der Gegend von Manchester. Ein junger Mann aus dem Erzgebirge, Gottfried Reichel heißt er, ist auf der britischen Insel als Kriegsgefangener in einem Lager interniert. In seiner Jugend haben ihm die Nationalsozialisten eingeimpft, die Feinde des deutschen Volkes zu hassen und zu vernichten, und zu diesen Feinden zählen auch die Engländer. Reichel, in dessen Elternhaus Christenkreuz und Hakenkreuz gleichermaßen verehrt wurden, hat der Propaganda Glauben geschenkt. Er vertraut ihr so sehr, dass er Angst hat, den Endsieg zu verpassen. Und so meldet er sich als 19-Jähriger freiwillig an die Front und wird noch im Spätsommer 1944, als der Krieg längst verloren ist, Mitglied einer Eliteeinheit: der 3. SS-Panzerdivision Totenkopf. Befehlshaber dieser mörderischen Verbände war Theodor Eicke, ehemaliger Kommandant des Konzentrationslagers Dachau.
Weihnachten 1946 befindet sich Reichel nun in den Händen derer, die er zu hassen gelernt hat. Inzwischen hat er von den unvorstellbaren Gräueln erfahren, die Deutsche in ganz Europa angerichtet haben, er hat eine Ahnung von dem furchtbaren Ausmaß der Judenvernichtung bekommen. Immer wieder stellt er sich die Frage: Wie hätte ich mich verhalten, wenn ich nach Dachau abkommandiert worden wäre? Oder nach Auschwitz? Wahrscheinlich hätte er den Befehl nicht verweigert, sagt Reichel heute und fügt hinzu: „Das ist mein Trauma bis zum heutigen Tag.“
In englischer Kriegsgefangenschaft wird Reichel „wieder zu einem Menschen“, wie er sagt. Und diese Menschwerdung hat auch mit dem Wunder der Weihnacht zu tun. „Ich hätte es den Engländern nicht übel nehmen können, wenn sie uns angespuckt hätten“, erzählt Reichel. Doch nichts dergleichen geschieht. Im Gegenteil: Weihnachten 1946 öffnen die Opfer ihre Häuser für deutsche Täter – gemeinsam feiern sie das Fest der Versöhnung Gottes mit den Menschen. „Was Mitmenschlichkeit ist, was Menschenwürde bedeutet, das habe ich dort begriffen.“
Die Kriegsgefangenschaft betrachtet Reichel rückblickend als „Segen“: Gott habe ihm Menschen geschickt, die ihm geholfen hätten, „diesen ganzen Unrat, diesen Hass, die Vorstellung minderwertigen Lebens, all das, was die Nazis so systematisch in uns jungen Menschen angehäuft hatten, abzutragen, loszuwerden, Stück um Stück.“
Als ein veränderter Mensch kehrt Reichel 1948 in seine erzgebirgische Heimat zurück, in das Dorf Pobershau bei Marienberg, in dem er 1925 geboren wurde. Er ist nun keiner mehr, der irdischen Heilsversprechern Vertrauen schenkt. Und er verspürt einen klaren Auftrag, den er erfüllen will: Alles zu tun, damit sich das, was in Nazi-Deutschland geschehen ist, nicht wiederholt. Reichel wird Lehrer, um die jungen Leute vor den Irrtümern seiner Generation zu warnen. Doch jemand, der sich nicht mehr verbiegen lässt, erregt rasch Anstoß: Der neuen Diktatur, die im Osten Deutschlands entstanden ist, missfällt sein kompromissloses Wirken, das nun auf dem Fundament der Bibel gründet – ohne Angabe von Gründen wird er vom Dienst entfernt. Reichel wird arbeitslos und verdient später seinen Lebensunterhalt als Buchhalter in einer Pappenfabrik.
Nun muss man fast von einem zweiten Wunder sprechen. Was Reichel in jungen Jahren misslungen ist, gelingt mit einem Mal. Wie so viele Männer im Erzgebirge wollte auch er das Schnitzen erlernen, doch mit seinem ersten Versuch war er gescheitert – der Bergmann landete im Feuer. Jetzt allerdings kann er immer geschickter mit Schnitzeisen und Schlegel umgehen, und es entsteht Figur um Figur: Weit über 300 Holzklötze sind in stillen und dunklen Wintermonaten unter Reichels Händen lebendig geworden. Die meisten der bis zu 80 Zentimeter großen Figuren sind in einer Dauerausstellung in Pobershau zu sehen. Die Gemeinde hat ihm dort im Dezember 1997 – gleichsam ein drittes Wunder – ein eigenes Museum eingerichtet. Jährlich kommen rund 10.000 Besucher aus dem In- und Ausland in die „Hütte“, um sich Reichels Figuren anzuschauen.
Allerdings: Wer traditionelles erzgebirgisches Schnitzwerk sucht, der wird nicht fündig. Kein Nussknacker, kein Räuchermännel, keine Pyramide. Stattdessen: Der Tanz um das goldene Kalb, der Brudermord Kains, Jakobs Wiedersehen mit Joseph, Maria mit dem Kind, der verlorene Sohn, der verspottete und gekreuzigte Christus. Reichel hat der Bibel ein Gesicht gegeben, viele Gesichter. Es sind schmucklose Figuren, schlicht und grob geschnitzt, sie wirken durch die Kunst des Weglassens. Reichels Vorbild ist Ernst Barlach, ein von den Nationalsozialisten verfemter Bildhauer. „Den Erzgebirglern gefällt’s nicht“, sagt Reichel lakonisch.
Ein Vierteljahrhundert hat Reichel, unterstützt von seiner vor zehn Jahren verstorbenen Frau, „auf Halde“ geschnitzt, ehe der Kunstdienst der sächsischen Landeskirche auf ihn aufmerksam wird und ihm die erste Ausstellung widmet. „Natürlich hätte ich viel Geld machen können“, sagt Reichel, „das wär ein schöner Mercedes geworden.“ Statt Geld für einen Mercedes hatte er jedoch anderes im Sinn: Gebete aus Lindenholz zu schaffen.
Doch es ist noch dieser andere Auftrag, der Reichel auch im Winter vor seinem 80. Geburtstag nicht zur Ruhe finden lässt. „Ich komm nicht los von der ganzen Geschichte“, sagt er, während er vor der Figurengruppe steht, die auf die meisten Besucher am nachhaltigsten wirkt: ausgemergelte, von unermesslichem Leid gezeichnete Gesichter, Kinder, Mütter, bärtige Männer, in sich verkrümmte oder einander Schutz gebende Gestalten mit weit aufgerissenen Augen – 36 Juden aus dem Warschauer Ghetto. Reichel hat sie von Fotografien nachgeschnitzt und ihnen ein Stück ihrer Würde zurückgegeben.
Wenn er durch die Ausstellung führt, kommen gerade hier die Fragen der jungen Leute, egal ob sie aus Deutschland, Polen oder Israel stammen: „Wie war das damals? Was haben Sie gewusst? Sie waren doch Christ – wie konnten Sie …? Und Reichel antwortet, offen und ehrlich, sich selbst nicht schonend. „Wenn wir nicht erzählen, was damals geschah, machen wir uns wieder schuldig“, sagt er und verweist mit einem Zitat von Bertolt Brecht auf die Wahlerfolge der rechtsextremistischen NPD: „Der Schoß ist fruchtbar noch …“
„Wider das Vergessen“ steht über der Gruppe aus dem Warschauer Ghetto, darunter hängt ein Kreuz. „Wir sind die Letzten – fragt uns aus!“, bittet Reichel fast flehentlich. In einem Porträt für das „Neue Deutschland“ hat die Reporterin die treffenden Worte für sein unermüdliches Engagement, das ihm Leidenschaft und Verpflichtung zugleich ist, gefunden: „Gottfried Reichel ist kein Schnitzer der heilen Welt. Nur einer, der sie heilen möchte.“
Die Figuren Gottfried Reichels sind in der „Hütte“ zu sehen, Rathausstraße 10 in 09496 Pobershau. Die Ausstellung ist dienstags bis sonntags von 10 bis 17 Uhr geöffnet. Nähere Informationen unter: 03735/62527.