Der Schnee ist ein Lügner. Er vertuscht und verdunkelt und täuscht eine Reinheit vor, die es nicht gibt. Ich schaue aus dem Fenster im sechsten Stock und kneife die Augen zusammen, weil mich das Weiß blendet.
Ich wünsche, der Schnee wäre schmutzig und grau, so wie die Häuser gegenüber und die Fabrik im Tal. Die Häuser und die Fabrik sind nicht zu sehen. Die dicken Flocken haben einen Vorhang zwischen ihnen und mir gewebt, ich bin allein. Im Fernsehen laufen Männer auf Skiern einsam gegen die Uhr, ich habe den Ton abgestellt, denn ich verstehe die Sprache nicht. Ich öffne das Fenster und lehne mich hinaus, der Schnee auf dem Rahmen schmilzt und tropft herab. Auf dem Linoleumboden bildet sich eine Pfütze.
Die Kerzen auf dem Adventskranz flackern und erlöschen. Der Schnee erstickt jedes Geräusch, drinnen und draußen. Der Wind weht Flocken in mein Gesicht und auf den Küchentisch. Die Schrift auf dem Papier neben dem Adventsgesteck verschwimmt. Die Buchstaben, groß und geschwungen, weiblich und rund, verändern ihre Form, sie zerlaufen und zerfasern, aber sie verlieren nicht ihren Sinn. Ich schließe das Fenster, lege das feuchte Papier auf den Heizkörper.
Es wird hart und raschelt, wenn ich es in die Hand nehme. Ich gehe durch die offene Tür ins Schlafzimmer. Am Fenster blühen Eisblumen. Es ist noch stiller als in der Küche. Der Wecker tickt lautlos und der Boden knarrt nicht. In der Nacht hat er geknarrt. Wenn sie frühmorgens aufstand, nach ihren Pantoffeln suchte und ins Bad schlurfte, hat er geknarrt.
Ich setze mich auf das Bett. In der Nacht hat es gequietscht. Es hat jede Nacht gequietscht. Jetzt ist es ruhig. Das Kopfkissen ist zerwühlt, auf dem Laken liegen Kekskrümel und eine Kopfwehtablette, die Decke ist zurückgeschlagen, achtlos und flüchtig. Auf dem Regal über dem Bett sitzt ein Teddybär und grinst. Gestern Abend hat er nicht gegrinst.
Neben dem Teddybär steht ein Foto. Es zeigt eine Frau in einer roten Jacke. Sie lehnt an einem Baum, dessen Äste sich unter der Last des Schnees beugen. Die Frau hat über Nacht ihr Lächeln verloren. Das Telefon läutet, aber ich hebe den Hörer nicht ab. Der Anrufbeantworter schaltet sich ein und ich höre eine fremde Stimme. Gestern noch war sie vertraut.
Die Stimme fragt in meiner Sprache, ob ich noch da sei. Ich nehme einen Schluck Wasser aus der Flasche, mit der sie vor dem Einschlafen die Pille hinunterspült, und schüttele den Kopf. Die Stimme sagt etwas in ihrer Sprache, die ich nicht verstehe. Es klingt wehmütig. Oder traurig. Oder zornig. Ich weiß es nicht. Ich schiebe die Kekskrümel zusammen, sammele sie in meiner Hand, öffne das Schlafzimmerfenster und lasse die Krümel vom Wind verwehen. Für die Vögel.
Der Schnee lügt noch immer. Bei diesem Wetter kann ich nicht gehen. Ich kehre zum Bett zurück, lege mich auf den Rücken, verschränke die Arme hinter dem Kopf und starre an die Zimmerdecke. Sie ist so unbefleckt wie der Schnee an dem Abend, als sie sich bei mir unterhakt, ihren Kopf an meine Schulter lehnt und mich über ihre Brillengläser hinweg ansieht, der Schnee verschluckt unsere Schritte auf dem Kopfsteinpflaster, er verwischt unsere Spuren, wir verlieren uns zwischen den alten Häusern, betört, verstört und verblendet. Der Schnee ist ein Gaukler und Illusionist. In der Wohnung nebenan hustet jemand.
Es ist ein Husten, der Angst einjagt. Der Mann, dem der Husten gehört, wird den Winter nicht überleben, hat sie in irgendeiner Nacht gesagt. Vielleicht hat er sein Bett ans Fenster gerückt, dass er hinausblicken kann. Ein letztes Mal den Himmel sehen, die Wolken, die Sonne. Oder die Schlote der Fabrik. Oder die graubraunen Fassaden der Häuser. Das Schneetreiben lässt nach, der Vorhang aus Flocken wird brüchig. Ich stehe auf, gehe ins Bad, hole Zahnbürste und Rasierer und packe sie in meine Tasche.
Meine Bücher lasse ich auf dem Schreibtisch stehen, ich habe sie ausgelesen, ich brauche sie nicht mehr. In drei Tagen ist Heilig Abend, ich werde mir neue Bücher schenken. Das kleine Kissen, das nach Heu und Heilkräutern und nach ihr riecht, stopfe ich in die Tasche. Das lange, kastanienbraune Haar, das nicht von mir ist, lasse ich auf dem Kissen. Das Telefon läutet wieder. Ich weiß, dass du noch da bist, sagt die Stimme, bitte nimm den Hörer ab. Ich nehme den Hörer nicht ab, sie schimpft in ihrer Sprache, dann ist wieder Stille. Ich gehe noch einmal durch die Wohnung und schaue, ob ich etwas vergessen habe.
Ich habe nichts vergessen. Außer den Büchern wird nichts an mich erinnern. Ich schalte den Fernseher aus, streiche mir zwei Brote für die Reise und drehe den Zettel zwischen meinen Fingern. Er knistert wie Geschenkpapier. Ich klappe mein Taschenmesser auf und ritze das dritte und vierte Wort aus dem Papier. Ohne dich halte ich in meinen Händen, geschrieben mit ihrer linken Hand, heute Morgen zwischen sechs und halb sieben.
Ich hole die Flasche Zubrówka aus dem Kühlschrank, fülle zwei Gläser und lege die beiden Worte zwischen sie auf den Küchentisch. Na zdrowie, sage ich, tauche den Zeigefinger in die Gläser und fahre über meine Lippen. Es schmeckt bitter. Die drei anderen Worte falte ich zusammen und stecke sie in die Hosentasche. Es hat aufgehört zu schneien, die Sonne erscheint als milchige Kugel über der Fabrik und den Häusern. Das Lügengebäude des Schnees bricht im Zwielicht zusammen. Ich ziehe Stiefel und Jacke an, schultere meine Tasche, schließe die Wohnungstür, steige die Treppe hinab und werfe den Schlüssel in den Briefkasten. Der Hausmeister schaufelt den Eingang frei und redet in ihrer und meiner Sprache auf mich ein. Er lächelt und ich lächele.
Er habe geglaubt, dass ich länger bleibe als die anderen, sagt er.
Ich auch, sage ich.
Du musst wiederkommen, sagt er. Im Winter, wenn der Schnee alles zudeckt, kann man hier gut leben.
Der Schnee ist ein Lügner, sage ich, ein Vertuscher und Verdunkler.
Der Hausmeister stützt sich auf den Schaufelstiel und lacht. Er zückt eine kleine Flasche Zubrówka hervor und reicht sie mir.
Na zdrowie, sagt er.
Na zdrowie, sage ich und nehme einen Schluck.
Der Hausmeister trinkt ebenfalls, schüttelt sich, schraubt den Verschluss zu und drückt mir die Flasche in die Hand.
Gute Reise, sagt er, schiebt einen Pfad bis zur Straße frei, klopft mir auf die Schulter und sagt etwas in seiner und ihrer Sprache.
Ich bedanke mich und stapfe los, am Kiosk vorbei, nicke der Verkäuferin zu, sie nickt zurück, an der Schule vorbei, dem Frisör, der Kneipe, in der wir gelacht und geträumt haben, den Vorgärten und Häuschen, schlittere ins Tal. Kinder rodeln und lachen, ich entsorge die Flasche Zubrówka in einem Mülleimer und warte auf die Straßenbahn zum Bahnhof. Es beginnt wieder zu schneien. Die Straßenbahn kommt, gedämpft, fast lautlos, ich steige ein.
Auf der anderen Spur fährt die Straßenbahn aus der Stadt heran. Eine Frau in einer roten Jacke schaut mich durch die beschlagenen Fensterscheiben an, winkt heftig, formt ihre Lippen und bildet Wörter, die ich nicht verstehe. Ich schaue an ihr vorbei, lasse mich vom Schnee nicht mehr vergaukeln. Die eine Straßenbahn hält an, die andere ruckt los, das Gesicht der Frau verblasst zwischen den Schneeflocken. Ich stelle meine Tasche auf den matschigen Boden, lasse mich auf den Sitz fallen, ziehe das Papier aus meiner Hosentasche und lese die drei Worte, die sie vor sieben Stunden geschrieben hat: Ich kann … leben.
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Das habe ich in der Form noch gar nicht betrachtet. Der Blickwinkel ist sicherlich interessant. Da haben wir vor Kurzem noch in der Firma drüber gesprochen.