… ist himmlisch leer.

Heute gegen Abend hätte man die Leute auf der ulica Grodzka, dem Königsweg vom Rynek zum Wawel, mit Handschlag begrüßen können. Wo man sich sonst zwischen den Touristenmassen mühsam den Weg bahnen muss, hätte man heute ein Straßenfußballturnier veranstalten können, ohne dass ein Passant den finalen Torschuss unfreiwillig zur Ecke gelenkt hätte. Der eine oder andere Elektronik-Fachmarkt hat zwar in den letzten Tagen vor dem Fest rund um die Uhr geöffnet, doch die meisten Krakauer zieht es offensichtlich nach Hause. Nach Hause, das heißt in irgendein Dorf in den Beskiden, der Hohen Tatra oder den Masuren, wo die Eltern oder Großeltern den Weihnachtsbaum schmücken. Krakau ist wie ausgestorben, und selbst die Kneipen im ehemaligen jüdischen und heutigen Szene-Viertel Kazimierz sind entweder geschlossen oder leer.

Aber manche zieht es auch nach Krakau: die Krakauer, die im Ausland leben und deren Eltern hier den Weihnachtsbaum schmücken. Am Nebentisch im Café Singer zum Beispiel sitzen zehn Personen, die sich gegenseitig unablässig mit dem Handy fotografieren und sich bei Wein, Wodka und Champagner auf das Fest des Friedens vorbereiten. Die sechs Damen sind aufgebrezelt und zeigen fajna góra, die vier Herren sind eher unscheinbar gekleidet und des Polnischen nur in den Grundkenntnissen mächtig. Die Damen reden ohne Punkt und Komma auf Polnisch, die Herren versuchen auf Englisch als common language untereinander eine Kommunikation aufzubauen. Was alle miteinander verbindet, sind die mit weihnachtlichen Motiven bedruckten Papiertaschen der Krakauer Boutiquen, die sich inzwischen stapeln. Ein einsamer Trinker klopft mit den Fingern zum Takt der Musik (Emir Kusturica) auf den Nebentisch und beobachtet die vorweihnachtliche Gesellschaft, ein Paar um die fünfzig schaut belustigt. Die beiden sind Israelis. Ich würde sie gerne fragen, warum sie ausgerechnet zu Weihnachten nach Krakau fahren, wo es mindestens zwanzig Grad kälter ist als in Tel Aviv.

Krakau zu Weihnachten ist himmlisch schön. Doch zu Wigilia, dem Heiligen Abend, werde auch ich die Stadt verlassen haben. Seit vielen Jahren werde ich mal wieder eine weiße Weihnacht erleben, dreißig Zentimeter Schnee liegen dort – in Grybów. Aber zu Silvester bin ich wieder hier – und dann wird die Stadt gewiss nicht ausgestorben sein.

In diesem Sinne: Wesolych Świąt i szczęśliwego nowego rokuEin frohes Fest und ein gesegnetes neues Jahr
UvS

PS: Cheflayouter Jens Luniak sagt immer, dass die Bilder entscheidend sind – und nicht die Worte. Deshalb hier noch ein Foto von unterwegs – auf dem Weg nach Krakau.

0.jpg Foto: Gabriela von Seltmann

Author

…, geboren 1964 in Müsen, kooperiert als freier Autor, Rechercheur und Projektmanager mit Organisationen u.a. in Deutschland, Polen, Israel, den USA und der Ukraine. Seit über 30 Jahren beschäftigt er sich sowohl mit der jüdischen Geschichte und Kultur als auch mit den familiären, gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen der NS-Zeit auf die Gegenwart. Uwe von Seltmann ist zudem Regisseur und Co-Produzent des preisgekrönten Dokumentarfilms „Boris Dorfman – A mentsh“. Zuletzt erschien 2021 „Wir sind da!“, das offizielle Buch zum Jubiläumsjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ (Homunculus, Erlangen).

2 Comments

  1. Der alte Werbespruch »One look is worth a thousand words« wird uns in 2008 jeden Sonntag verstärkt beschäftigen.

    Der [abstrakten] Worte sind genug gewechselt …

    😉

    Beste Wünsche zum Jahreswechsel – und tanke auch recht viel Lebensenergie in Polen. Viele Grüße aus Leipzig vom Jens

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