Oder: »Wie ich zum Lesen kam«

Mit Banduras Schuhsorgen hat alles begonnen. Bandura war Anfang der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts ein Spieler bei einem unendlich weit entfernt gelegenen Fußballverein namens Hannover 96. Diesem Bandura, längst vergessen, waren die Schnürsenkel seines Stiefels aufgegangen. Und während er sich seinem Schuhwerk zuwenden musste, enteilte ihm ein gegnerischer Stürmer und schoss das entscheidende Tor. Zwei zu null hatte Hannover 96 verloren, gegen wen ­ was soll’s. Der Zeitung, die ich damals begierig las, war das vermutlich eher belanglose Spiel lediglich ein kurzer Einspalter wert. Und dennoch hat sich die Überschrift bis heute in meinem Gedächtnis eingebrannt: Banduras Schuhsorgen.

In meiner Erinnerung war es ein trüber Herbsttag, an dem diese Überschrift erschien. Auf jeden Fall war es ein Montagnachmittag. Denn die Zeitung, die ich damals las, wurde nicht früh am Morgen zugetragen, sondern am Nachmittag. Das heißt, eigentlich mittags. Aber wenn der graue VW-Bus mit dem Zeitungsemblem, der aus der Stadt herangebraust kam, unser Dorf erreicht hatte, war es längst Nachmittag geworden. Erst vor wenigen Jahren hat die Zeitung auf morgendliche Lieferung umgestellt, aber ich kann mich nicht daran gewöhnen. Wenn ich, selten genug, mein Heimatdorf besuche, warte ich bis vier Uhr nachmittags, ehe ich die Zeitung aufschlage. Und dann vermisse ich: die Letzte Meldung, für die man einst auf der ersten Seite immer mindestens zwanzig Zeilen freigehalten hatte und deren Aktualität durch Fettdruck nachgewiesen wurde.

Ich hatte mich damals keineswegs gegenüber den Nachbarn benachteiligt gefühlt, denen die lokale Konkurrenzzeitung bereits im Morgengrauen gebracht wurde. Zum Frühstück Zeitung zu lesen, das war mir kein Bedürfnis. Beim Frühstück wollte ich ein Schwarzbrot mit Nutella, eins mit hausgemachter Marmelade, ein Glas Kakao und meinem kleinen Bruder beim Haferflockenessen zuschauen, mehr wollte ich nicht. Nicht einmal an jenen Montagen hatte ich die Nachbarn beneidet, an denen ich noch immer nicht die Bundesligaergebnisse vom vergangenen Samstag wusste, weil ich wegen einer Verkettung unglücklicher Umstände weder die Konferenzschaltung im Radio hören noch die Sportschau im Ersten Programm gucken konnte. Die Ergebnisse würde ich spätestens in der ersten Pause auf dem Schulhof erfahren, und dann wäre genügend Zeit, die Vorfreude auf die ausführlichen Spielberichte zu steigern, die ich am Nachmittag studieren würde.

Aber auch wenn ich sowohl durch Konferenzschaltung wie Sportschau bestens informiert war, blieb der Montag der wichtigste und spannendste Tag der Woche. Ich wollte alles nachlesen, was ich gesehen und gehört hatte. Vermutlich ist es ganz einfach zu erklären: Ich schenkte dem gedruckten Wort mehr Glauben als dem gesprochenen. Und ich glaubte dem gedruckten Wort mehr, als dem, was ich mit meinen Augen, meinen eigenen Augen, im Fernsehen gesehen hatte. Das gedruckte Wort war heilig für mich. Die aneinandergereihten Wörter, die wundersamer Weise stets in eine Zeile passten, fest und unverbrüchlich in Blocksatz gemeißelt, so wie Gutenberg einst die Heilige Schrift in Blocksatz gemeißelt hatte, um ihre Endgültigkeit, ihre Letztgültigkeit zu beweisen – sie waren heilig für mich. Eine letzte Instanz. Das war die Wahrheit. Hier wurde nicht gelogen, hier wurden keine Geschichten, keine Märchen erzählt. Hier stand Schwarz auf Weiß, was Sache war. Punkt. Und noch mal Punkt.

Vor allem montags verließ ich, spätestens nachdem der Zwanzig-vor-vier-Bus vorbeigefahren war, das elterliche Haus und ging zu meinen Großeltern. Sie wohnten schräg gegenüber, keine hundert Kinderschritte entfernt. Meine Eltern hatten die Zeitung nicht abonniert. Ihnen reichte es, wenn sie ihnen am nächsten Morgen vom Großvater gebracht wurde, so gegen halb zehn. Dann hatten sie gewissermaßen ihre Morgenzeitung zum zweiten Frühstück. Aber mein Vater war da längst aus dem Haus, und meine Mutter interessierte sich lediglich für die beiden letzten Seiten mit den Todesanzeigen und ­ am Wochenende ­ den Verlobungs- und Hochzeitsannoncen.

Im Winter war es besonders spannend. Vor allem, wenn es geschneit hatte und das gelbe Blinklicht des Schneepflugs keine Erlösung verkündete. Als meine Urgroßmutter noch lebte, saß ich neben ihr am Küchenfenster und starrte hinaus, sie rechts in ihrem Lehnstuhl, ich links auf der Kante der Eckbank. Wir schauten in die Dämmerung und konnten dennoch alles erkennen, was sich draußen abspielte. Denn Licht gemacht wurde im Haus meiner Großeltern erst, wenn man die Zeitung nicht mehr lesen konnte. Und wenn die Zeitung nicht kam, brauchte man nicht zu lesen und also auch kein Licht einschalten. Und wenn man kein Licht anmachte, musste man auch den Rollladen nicht hinunterlassen, denn nur bei Licht hätten ja die Nachbarn erkennen können, was hinter den großelterlichen Gardinen geschah. Die Großeltern hätten keinesfalls etwas zu verbergen gehabt, sie waren ehrbare, anständige und fromme Bürger. Es war gewissermaßen wie ein Wettstreit unter den Nachbarn, ein Wettstreit, der die herkömmlichen Regeln auf den Kopf stellte: Hier hatte der Letzte gewonnen. Wer als Letzter das Licht einschaltete und die Jalousien herunterließ, der war der Sieger. Verloren hatten also diejenigen, in deren Haus zuerst eine Lampe aufleuchtete. Auch wenn sie nur kurz aufschien, damit der Weg zum Rollo noch gefunden werden konnte. Hier wurde nach dem biblischen Prinzip verfahren, dass die Letzten die Ersten sein werden. Die Letzten werden die Ersten sein ­ auch einer dieser in Blocksatz gemeißelten Sätze.

So saßen meine Urgroßmutter und ich am Fenster und starrten hinaus. Viel zu sehen gab es nicht. Unser Dorf besaß keine Durchgangsstraße. Man konnte die Männer von der Schicht heimkommen sehen und die Frauen zum Lebensmitteladen gehen, um das am Vormittag Vergessene einzuholen. Aber im Winter hatten es alle eilig, weil sie froren, und keiner blieb für ein Schwätzchen stehen. Hier und da blitzten die Zimmerlampen auf, ehe die Jalousien sie wieder zum Erlöschen brachten. Golzes haben schon Licht an, sagte die Urgroßmutter. Und ich: Vetters auch. Fieropps aber noch nicht, ertönte aus der Tiefe des Küchenraumes die Stimme der Großmutter und damit war die Entscheidung gefallen: Wir würden weiterhin in der Dämmerung sitzen. Manchmal begann die Urgroßmutter, vom großen Brand in unserem Dorf zu erzählen. Den hatte sie als Kind erlebt, 1893 war es gewesen. Das ganze Dorf war abgebrannt, zuletzt die steinerne Kirche, in die alle ihr Hab und Gut gebracht und in Sicherheit gewähnt hatten. Einzig eine nutzlose Scheune war unversehrt geblieben ­ so wie es Jahre zuvor eine Zigeunerin geweissagt hatte.

Aber an jenen Montagen, an denen ich auf das Sportblatt wartete, hatte ich kein Ohr für den Bericht vom großen Brand. Ich wollte mir auch keine anderen Geschichten anhören, nicht einmal die vom Großvater, der Seeräuber war. Erstens kannte ich Großvater war Seeräuber längst auswendig ­ einschließlich der Passagen, die meine Urgroßmutter beim Vorlesen gerne ausgelassen hatte ­ und zweitens war ich inzwischen zu alt für dieses Kinderbuch. Und auch die Geschichte vom großen Brand interessierte mich nicht an jenen Montagen. Mich interessierte nur eine Frage: Würde ich noch vor dem Abendessen die Zeitung lesen können? Denn das Abendessen war eine heilige Zeit. Punkt halb sechs, keine Minute später. Bei meinen Eltern schräg gegenüber, nicht bei meinen Großeltern. Und nach dem Abendessen durfte ich das Haus nicht mehr verlassen. Es ging also um Alles oder Nichts.

Die schlimmste aller für mich denkbaren Katastrophen war folglich, einen Montag ohne Blick in die Zeitung verleben zu müssen. Ab halb fünf wurde ich unruhig, um fünf hatte ich auch meine Großeltern nervös gemacht, und um fünf vor halb sechs schien der Weltuntergang nahe. Gelegentlich geschah ein Wunder und im Schneesturm wurden zwei Minuten vor halb sechs die Umrisse eines Bundeswehrparkas erkennbar, in dem tief vermummt der Zeitungsausträger steckte. Das schönste Wunder war jedoch, wenn ich beim Gehen ­ der größtmöglichen Verzweiflung verfallen – die Zeitung im Briefkasten entdeckte. Da steckte sie, dreifach gefaltet, und ich konnte mir nicht erklären, wie sie dort hineingekommen war. Fast zwei Stunden hatte ich am Fenster gehockt, gehofft und gebangt, gerätselt und gefleht, dem Zeitungsboten einen feuerspeienden Drachen an den Hals gewünscht ­ und nicht bemerkt, dass er längst treu und brav seinen Dienst getan hatte. Dann riss ich das Sportblatt heraus, dankte dem lieben Heiland und rannte, nein: sprang und hüpfte quer über die Straße zum elterlichen Abendessen. Dort legte ich die Zeitung auf die Heizung neben dem Küchentisch, darauf hoffend ­ von Vaters Blicken unbemerkt ­ zumindest ein paar Buchstaben der Überschriften erhaschen zu können. Ich war glücklich. Unbeschwert glücklich.

Der herbstliche Montag, an dem der Artikel über Banduras Schuhsorgen erschien, war keiner dieser dramatischen Montage, an dem es gewissermaßen um Leben oder Tod ging. Es war ein ganz gewöhnlicher Montag. Die Zeitungsjungen, von denen einer ganz jung verstorben ist, hatten das Sportblatt pünktlich geliefert. Und dennoch hat sich dieser Tag, wie gesagt, tief in meinem Gedächtnis verankert.

Ich sehe mich, wie ich die Zeitung auf dem Küchenboden ausgebreitet habe und vor ihr niederknie ­ die Zeitung ist zu groß für mich, als dass ich sie in den Händen halten könnte. Neben mir steht ein kleines Schälchen mit Erdnüssen. Das Schälchen ist von Tupperware, die Erdnüsse stammen aus einer gelben Tüte, Marke Felix. Sie sind streng rationiert, weil ich ja noch Hunger zum Abendessen mitbringen muss. Gelegentlich gibt es auch Erdnuss-Flips, Engerlinge genannt, aus einer roten Tüte, Marke Bahlsen. So knie ich dort, Erdnüsse essend und die Zeit vergessend. Lese Zeile um Zeile in dieser Zeitung, die damals noch eine einzige Bleiwüste ist. Aber ich sauge jeden Buchstaben im mich auf, egal ob ich verstehe, was ich lese, oder nicht. Ich lese und lese, bis mich die Großmutter mahnt, dass es Zeit zum Abendessen sei. Und dann erhebe ich mich, Vietnam-Krieg, Watergate, Steiner-Wienand-Affäre und Willy Brandt im Kopf ­ und Banduras Schuhsorgen lassen mich nicht mehr los.

Bis heute nicht. Manchmal denke ich, ich solle Bandura, den Pechvogel, mal besuchen und fragen, wie es ihm geht. Sein Missgeschick hat, auch wenn es etwas theatralisch klingt, mein Leben geprägt. Er, der mittelprächtige Fußballer, ist es, dem ich die unauslöschlichste Erinnerung an das Lesen zu verdanken habe. Die Erinnerung an Nachmittage, die es nicht mehr gibt. Weil meine altehrwürdige Heimatzeitung nicht mehr nachmittags erscheint, sondern früh am Morgen, und ich, seit vielen Jahren in der Fremde lebend, ihre Überschriften nur noch im Internet überfliege. Weil meine Eltern nicht mehr Punkt halb sechs zu Abend essen. Weil keiner der Nachbarn mehr beim Lichteinschalten spart. Weil ich nicht mehr auf dem Boden knie, um Zeitung zu lesen. Weil nur noch meine Großmutter lebt. Weil ich selbst inzwischen unzählige Überschriften formuliert habe ­ und keine die Qualität erreicht hat wie Banduras Schuhsorgen. Und weil die Letzten nicht mehr die Ersten sind.

Author

…, geboren 1964 in Müsen, kooperiert als freier Autor, Rechercheur und Projektmanager mit Organisationen u.a. in Deutschland, Polen, Israel, den USA und der Ukraine. Seit über 30 Jahren beschäftigt er sich sowohl mit der jüdischen Geschichte und Kultur als auch mit den familiären, gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen der NS-Zeit auf die Gegenwart. Uwe von Seltmann ist zudem Regisseur und Co-Produzent des preisgekrönten Dokumentarfilms „Boris Dorfman – A mentsh“. Zuletzt erschien 2021 „Wir sind da!“, das offizielle Buch zum Jubiläumsjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ (Homunculus, Erlangen).

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