Zum 68. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz und 80 Jahre nach dem Beginn der NS-Diktatur stellt sich die Frage: Wozu uns erinnern? Um ein anderes, besseres Leben zu führen.
In der Thora haben die Vorväter eine Erkenntnis formuliert, die Juden wie Christen zu einer sprichwörtlichen Redewendung geworden ist: »Bis ins dritte und vierte Glied«, heißt es im 2. Buch Mose, wirke die Schuld einer Generation nach.
Dieses Wissen der Alten wird heute von Gedächtnisforschern und Psychologen bestätigt: Über vier Generationen hinweg erstreckt sich das kollektive Gedächtnis, vier Generationen werden durch das, was geschehen ist und geschieht, zusammengeschmiedet – ob sie wollen oder nicht. Um es etwas salopp auszudrücken: Noch die Urenkel müssen das ausbaden, was die Vorfahren angerichtet haben. Oder was ihren Vorfahren angetan wurde.
Wie wichtig eine Erinnerungskette über Generationen hinweg sein kann, haben im März 2011 die Bewohner des Dorfes Aneyoshi im Norden Japans erfahren. Vielerorts stehen an der Küste Steine mit uralten Inschriften, die vor einem Tsunami warnen, doch die Mahnungen der Ahnen waren vergessen worden. Als der Ernstfall eintrat, mussten Tausende sterben, weil sie nicht wussten, wie sie sich verhalten sollten.
In Aneyoshi hingegen starb niemand, denn das Dorf war geschlossen auf Anhöhen geflüchtet. Die Bewohner konnten sich retten, weil jeder die Mahnmale kannte – sie wurden in der Schule durchgenommen.
In der vierten Generation würden die Erinnerungen an ein grausames Ereignis verblassen, hat ein japanischer Katastrophenforscher die Ignoranz seiner Landsleute gegenüber den Erfahrungen der Vorfahren erklärt.
Auf den hiesigen Schulbänken sitzen heute Jungen und Mädchen der vierten Generation nach den grauenvollsten Ereignissen der Menschheitsgeschichte, für die ein Ort zum Symbol geworden ist: Auschwitz. Die Befreiung des von Deutschen errichteten Konzentrations- und Vernichtungslagers, in dem über eine Million Menschen ermordet wurden, jährt sich am 27. Januar zum 68. Mal.
Der Jahrestag fällt in eine Zeit, in der die letzten Augenzeugen sterben, und Forderungen wie »Vergesst Auschwitz!« oder Aufrufe, »endlich einen Schlussstrich zu ziehen«, weil die Zeit des Nationalsozialismus »so lange her« sei, überall zu lesen und zu hören sind.
Dass die meisten Deutschen vom Juden- und Polenmord nichts mehr wissen wollen, ist psychologisch gesehen verständlich – es ist einfacher, es zu verdrängen, als sich einzugestehen: Ja, auch meine Eltern und Großeltern haben mitgemacht oder zugeschaut.
Aber ist das wirklich schon so lange her? Was sind 70 Jahre? Es kann sein, dass für die einen 70 Jahre vergangen sind und sich auf ein paar Seiten im Geschichtsbuch reduzieren. Für die anderen ist es nur eine Sekunde. Eine Sekunde, dann haben sie die Bilder von damals wieder vor sich: schonungslos scharf, erbarmungslos ewig. Und diese Sekunde währt dann ein ganzes Leben. Auch im Leben der Nachkommen.
Schlussstrich ziehen? Warum kommt niemand auf die Idee, einen Schlussstrich unter, sagen wir, den Dreißigjährigen Krieg zu fordern? Aber was werden die Folgen dieses Ver- und Beschweigens sein? Wird es nicht dazu führen, dass sich die Prophezeiung des Schriftstellers Manès Sperber erfüllt? »Auf den Schulbänken sitzen die Leichen des kommenden Krieges«, schrieb Sperber: »Nichts von dem, was sie lernen, wird sie befähigen, sich vor diesem Schicksal zu bewahren.«
Sind wir es der vierten Generation nicht schuldig, alles zu tun, damit sie nicht zu den Leichen des kommenden Krieges werden? Das Vermächtnis von Jerzy Pazdanowski kann uns eine Hilfe sein. »Auschwitz vergessen? Nein, niemals!«, rief er aus an dem Ort, an dem sein Bruder Michal ermordet worden war. Auschwitz sei nicht nur ein »Ort des Todes«, so der Überlebende des KZ Dachau, sondern auch ein »Ort des Lebens«. Mit einer Botschaft: »Ein anderes, besseres Leben zu führen.«